Heute vor einem Jahr lag ich unter dem Knochenszintigraphiegerät. Und während die Schwester meine Hand gehalten hat, habe ich in Gedanken Pippi Langstrumpf gesungen.
Es hat Wunder gewirkt gegen meine Platzangst, denn diese Scanplatten halten für eine Weile, für mich eine gefühlte Unendlichkeit, direkt über dem Kopf an und scannen da erstmal vor sich hin. Das spürt man sogar am Klang der Stimme, wenn man selbst spricht. Dann wird die Stimme ganz dumpf und da hörte ich doch lieber auf zu sprechen und hörte nur noch der Schwester zu.
Denn ich frage, wenn ich nervös bin, all zu gerne die Schwestern aus: „Erzählen Sie mir doch mal was von Ihnen, wenn Sie mögen.“ Meistens erzählen sie dann auch freudig drauf los und es ergibt sich ein herziger Plausch. Das kann ich herzlichst empfehlen.
...
Amüsiert waren sicherlich auch die Schwestern bei meinem CT-Termin einen Tag später. Mal wieder halbnackt auf der Pritsche liegend, mit Kanüle im Handgelenk sang ich diesmal - laut - Pippi Langstrumpf. Mir war das egal. Ich wollte das nur überstehen, egal wie. Schlimm war es tatsächlich gar nicht, da die Röhre hinten offen ist und das CT auch schnell vorbei ging. Um zu sehen, ob die Organe von Metastasen befallen sind, wird Kontrastmittel gespritzt. Direkt danach hat man das Gefühl, die Blase versagt und man macht Pippi in die Hose. Ein sehr lustiges aber auch irritierendes Gefühl. Als ich mit dem CT fertig war, wollte ich ganz sicher sein und hab nachgesehen. Da war wirklich kein Pippi :).
Um überhaupt das CT machen zu können, musste ich einen ganzen Liter Kontrastmittel in nur zwei Stunden trinken. So viel schaffe ich meistens nicht einmal an einem Tag. Eine Freundin hatte mich schon vorgewarnt, dass es widerlich schmecken würde. Es roch eigentlich ganz ok, ähnlich wie Magnesiumdrinks nach zum Beispiel Orange. Nichts da, Teufelszeug! Zu meinem Glück hatte ich ein Kräuter-Bonbon in meiner Tasche. Jedesmal nach zwei drei Schlückchen lutschte ich am Bonbon, um einen anderen Geschmack zu bekommen. Auch wenn mich der einzige Mensch, der im Wartezimmer saß, irritiert anschaute. Irgendwann wird einem das alles egal. Zu oft haben mich mittlerweile Ärzte und Schwestern nackig gesehen und in den unmöglichsten Situationen. Ich rief eine Freundin an - die durfte mir eine Stunde lang gut zureden, bis ich knappe 750ml geschafft habe.
„Schlückchen für Schlückchen ernährt sich das Eichhörnchen“
schrieb sie mir hinterher. Und ich war stolz, dass ich es ohne mich zu übergeben gepackt habe. Ich hörte wilde Geschichten, in denen der Blumenkübel dran glauben musste. Als alles vorbei und geschafft war, brachen bei mir alle Dämme und die Tränen kullerten. Die Schwester war auch hier irritiert "es ist doch gar nichts passiert". Für mich waren aber mit diesem CT alle Voruntersuchungen abgeschlossen. Jetzt war alles Schwarz auf Weiß, ob in mir Metastasen wuchern würden oder gar ein anderer Tumor. Die Ergebnisse würde ich aber erst in ein paar Tagen bekommen.
Auch in diesen Tagen, heute vor einem Jahr, konnte ich endlich einen Menschen loslassen. Ein Mann, dem ich für lange Zeit mein Herz schenkte. Mit der Diagnose veränderte sich meine Sicht auf ihn, auf mich und schließlich auch auf uns. Wir waren kein Paar. Wir hatten es in fast drei Jahren nicht geschafft, wirklich zusammen zu finden. Wir hatten es uns beide gewünscht, doch er konnte nicht. Und ich konnte jetzt auch nicht mehr. Denn ich wollte nicht mehr jemandem mein Herz schenken, der es nicht aus vollem Herzen möchte. Er ist ein wunderbarer Mensch mit dem Herz am rechten Fleck, keine Frage, und wir haben viel voneinander lernen dürfen. Doch irgendwann fängt es an, nicht mehr gut zu tun. Diesen Punkt hatte ich viel zu lange übergangen und ignoriert. So sehr hatte ich mir gewünscht und erhofft, irgendwann doch noch zueinander finden zu können.
Aber mit der Diagnose veränderte sich das, weil ich endlich die Dinge aus einem anderen Blickwinkel heraus betrachten konnte. Wollte ich wirklich einen Mann, der nicht für mich da ist, wenn ich ihn brauche? Jemanden, der geht, wenn es schwierig und holprig wird? Der mich hängen lässt, wenn es darauf ankommt? Manchmal ist man doch blind, vor scheinbarer Liebe, die keine ist.
Ich wollte ihn gerne treffen, um ihm von meiner Diagnose zu berichten und davon, dass ich ihn loslassen möchte. Das Treffen hat er kurzfristig abgesagt. Ich muss, glaube ich, nicht betonen, wie sehr mich das wütend gemacht hat. Ich kannte das schon, dieses unverbindliche Verhalten. Aber der Unterschied zu früher war jetzt, dass ich nicht länger darüber hinweg sehen wollte. Ich hatte immer Angst davor, einem Mann meine Meinung zu sagen. Aus Angst, er würde mich verlassen. Heute weiß ich es endlich besser, wie ungesund das ist und dass ich alles sagen kann, was mir auf dem Herzen liegt.
Wir trafen uns ein paar Tage später - hierüber berichte ich noch. Es war auf jeden Fall unendlich befreiend, meinen Gefühlen ihm gegenüber Gehör zu verschaffen. Ich bin sehr dankbar, dass ich ihn endlich loslassen konnte. Ich glaube nämlich, dass in meinem Tumor, den ich liebevoll „Egon“ taufte, auch jede Menge von ihm steckte. Von der Erfahrung mit ihm und anderen Männern, die mir nicht gut getan haben. Verhaltensweisen, die ich an den Tag legte, nur um geliebt zu werden. Menschen, die mir sehr nach standen und mir mit Worten & Taten wehgetan haben. Verlustängste, Ängste im Allgemeinen, Schuldgefühle, Zweifel, Sehnsüchte.
Egon sorgte ganz schön für Tabularasa - ein sehr nötiges inneres Aufräumen!
Mein Nachbar R. sorgte bei mir auch für ganz schön Tabularasa. Aber das Spritzen meisterten wir mittlerweile prima. Ich bereitete alles für sein Klopfen um 20:15 Uhr vor. Ich hatte die Spritze mit dem Medikament gefüllt, alles zurecht gelegt und so konnte er klopfen, rein kommen, wir desinfizierten die Stelle am Bauch und zack, war die Spritze gesetzt & es war geschafft. Keine Minute dauerte das. Wir lachen noch heute darüber, dass er spritzen kann wie ein junger Gott - als hätte er nie etwas anderes gemacht.
Damals dachte ich noch überhaupt nicht daran, dass aus uns vielleicht mehr werden könnte als sehr gute Nachbarn. Ich genoss es einfach sehr, dass er da war und jeden Abend länger blieb. Wir tranken Tee (das war auch das Einzige, was ich zuhause hatte: eine Schublade voller Tee. In meinem Kühlschrank war gähnende Leere) und erzählten über Gott & die Welt. Ich merkte natürlich schnell, dass er ein ganz arg toller Mann ist. Das schenkte mir Hoffnung, dass es da draussen noch wunderbare Männer gibt.
Die Spritze am Morgen nahmen mir allerdings jegliche Gesichtsfarbe. Da hieß es hinlegen & Füße hoch. Dass R. da war, hat mich immer sehr beruhigt. Er würde sogar zu meiner Port-OP mitkommen. Denn dafür brauchte ich eine Begleitung. Wir scherzten noch, wer dann wohl wen die Treppe hoch in den 4. Stock Altbau tragen müsse. Ich oder er?
Meine Tante kam zu Besuch und blieb ein paar Tage bis zum Wochenende. Darauf freute ich mich unendlich! Mit ihr zusammen würde ich das Ergebnis der ganzen Voruntersuchungen bekommen. In diesen Tagen visualisierte ich, dass ich komplett gesund sein & „nur“ der Brustkrebs da sein würde, sonst nichts. Ich könnte Anfang Januar mit der Chemotherapie im Brustzentrum starten und müsste nicht in die Charité, in der ich nur eine von vielen bin. Ich würde ganz alt werden. Mit Wackelpopo, tiefen Falten im Gesicht und gesunden Hängebrüsten.
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