Wenn ich an den Tag, heute vor einem Jahr, zurückdenke, bekomme ich Schmetterlinge in meinem Bauch & ein ganz kribbeliges, warmes Gefühl. Dieser Tag war ein ganz besonderer Tag und hat mein Leben auf die schönste Weise verändert. Es war ein Sonntag und ich musste mir am Abend zum ersten Mal die Hormonspritze für die spätere Eizellenentnahme geben. Ich war super nervös & aufgeregt - frage nicht! Ich hatte dafür eine Art Pen bekommen, in den man das Medikament legt, die Nadel einsetzt und dann los: ab in den Bauchspeck! Uhä, eine fiese Vorstellung. Die Spritzen musste ich mir ab heute nun jeden Abend um die gleiche Zeit geben.
Eine liebe Herzensfreundin hat mir angeboten, dass ich sie anrufen könne. Denn sie muss sich auch immer mal wieder, aufgrund Diabetes, Spritzen geben. Ich nahm ihr Angebot dankend an und war heilfroh, das nicht alleine machen zu müssen, sondern wunderbare Freundinnen-Unterstützung am Telefon zu haben. Vorher habe ich mir - ich weiß nicht wie oft - das Video angesehen, in dem gezeigt wird, wie das mit der Spritze so funktioniert. Immer und immer wieder. Meine Aufregung war riesig, ich hatte ganz schön Bammel. Es war also irgendwann 19:45 Uhr und ich rief, wie abgemacht, meine Freundin an. Sie machte auf die schönste Weise Mut und versuchte wirklich alles! Aber ich konnte nur jammern, lachen vor Angst, blödelte herum und traute mich einfach nicht. Es wurden drölfzigtausend Versuche mit herunter zählen von 3 auf 1, aber ohne Erfolg. Irgendwann wechselten wir auf Facetime um, da sah ich sie wenigstens und hätte vielleicht mehr Mut. Fehlanzeige. Ihre beiden kleinen Kinder - zuckersüß!! - kamen hinzu und sie zählten zu dritt runter von 3 auf 1. Wieder nichts. Ich fand einfach diesen Mutanstoß nicht, den man sonst doch hat. Dieses zack und los. Der kam einfach nicht.
...
Mittlerweile war es 20:15 Uhr. Die Spritze musste ja jeden Abend um die selbe Zeit verabreicht werden. Und sollte ich die nächsten Tage und Wochen zu einer Freundin fahren müssen, würde es ja ganz schön spät werden. Ich hatte also nicht mehr viel Zeit um weiter herumzudrucksen. Ich sagte meiner Freundin, ich frage einfach mal drüben meine Nachbarn. Mehr als nein sagen können die ja nicht. Ein Glück hat mir das meine Mama immer und immer wieder gepredigt:
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Wenn Du fragst, kannst Du ein Nein bekommen, aber auch ein Ja.
Wenn Du gar nicht erst fragst, ist es ganz sicher ein Nein.
Du kannst also nur gewinnen.
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Wir legten also auf und ich stand direkt gegenüber, vor der Türe meiner Nachbarn. Ich mochte beide sehr. Sie waren total herzig, wir plauderten meistens im Treppenhaus oder auf unseren Balkonen, die direkt nebeneinander liegen. Wir schauten immer nach der Post und den Blumen, wenn einer von uns im Urlaub war. Ich hatte schon etwas Herzklopfen und wusste auch nicht wirklich, wie ich genau fragen sollte. Normalerweise fragt man seine Nachbarn ja eher nach Eiern, Zucker oder Mehl. So die Theorie. Die Praxis sah wie folgt aus:
Ich klingelte und R. machte mir die Türe auf. Vielleicht war mein Blick auch Ewas seltsam - meiner Aufregung geschuldet. Er schaute mich an und ich fragte ihn, ob er alleine sei. Er antwortete mit Ja. Vielleicht hätte ich tatsächlich jemand weibliches, also sie, bevorzugt, weil Spritze in Bauchspeck und so. Aber mir war es dann doch völlig egal. Ich würde froh und unendlich dankbar sein, wenn überhaupt irgendjemand mir diese Spritze in den Bauch gibt. Dann platzte ich mit der Frage aller Fragen heraus:
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Kannst Du spritzen?
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Wir lachen noch heute darüber, wie urkomisch diese Frage war. R. wurde leicht nervös, fuchtelte aufgeregt mit seinen Händen rum und stammelte dann irgendwie ein „äh, ja, aber dann lass uns nicht lange drüber reden. Einfach schnell machen.“ Oh ich hätte hüpfen können vor Freude. Und gesagt getan. Wir eilten also rüber zu mir. Er durfte sich hinsetzen, ehe er noch umkippen würde - der Arme. Ich stand vor ihm, wir hielten uns an den feuchten Händen und er piekste mir die Spritze, zack, in den Bauch. Noch nie hatte ich einem Mann so meinen Bauchspeck präsentiert. Aber mittlerweile hatten so viele Menschen meinen Speck gesehen oder auch meine Brüste, mir war es langsam egal.
Da es einen Moment dauert, bis das Medikament vollständig gespritzt ist, wollte ich ihn ablenken mit ein bißchen Erzählen, Fragen fragen und so. Denn seine Hände fingen an zu kribbeln. Ich fragte, wie die Arbeit so ist. Ich wusste gar nicht so wirklich, was er beruflich machte. Irgendwas mit IT. Beschloss aber dann und sagte das auch laut, dass über die Arbeit reden ja total blöd sei. Ich fragte also weiter, ob die beiden denn noch glücklich seien und erwartete natürlich eine positive Antwort. Ob die Frage besser war, darüber kann man sich jetzt streiten. Aber wider meiner Erwartung antwortete er stattdessen: „Äh, ja nein, wir haben uns heute getrennt.“ Fettnapf deluxe. „Meine Güte Verena“, dachte ich mir, „Du hast aber auch wieder ein Talent dafür die komischsten & unpassendsten Fragen zu stellen.“ Aber zu schöneren Fragen war ich nicht fähig. Spritze, Speckbauch, Mann und dann noch anständige Fragen stellen war einfach zu viel für den Moment. Ich war total verdutzt, weil ich mit seiner Antwort überhaupt nicht gerechnet hatte. Ich wusste erstmal nicht was ich sagen sollte. Außer, dass das mir natürlich sehr leid tut. Mir war es so unangenehm, gefragt zu haben. Aber wer kann das denn bitte wissen?
Mittlerweile war auch alles weggespritzt und im Bauch. Naja, fast alles. Vor lauter Aufregung haben wir zu früh losgelassen und ein Teil des Medikaments ist in der Spritze verblieben. Aber nach späterem Abklären war das nicht weiter schlimm. Da saß er also - R. in meinem Wohnzimmer auf dem Stuhl, blass im Gesicht aufgrund seiner großen Angst vor Spritzen, hat mir dennoch eine todesmutig in den Bauch gejagt, frisch getrennt, mit mir und meinem Bauchspeck. Er blieb noch eine Weile und er erzählte mir, dass ihm das niemand glauben wird. ER hat eine Spritze gegeben, ER! Ich glaube, er war mächtig stolz auf sich. Zumindest dann, als er wieder Farbe im Gesicht hatte. Und mir bedeutete es die Welt, dass er so sehr mutig war. Für mich, seine Nachbarin. Meine Dankbarkeit konnte ich nicht in Worte fassen. Sie war unendlich groß. Da hatten wir wohl beide unser Päckchen. Ich den Krebs und er seine Trennung nach jahrelanger Beziehung. Aber es tat so gut, mit ihm zu sprechen. Wir plauderten weiter ein wenig über Gott & die Welt und fragten uns, was jetzt in Zukunft wohl auf uns zukommen würde. Ohne zu wissen, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben würden.
An diesem Tag begann meine Reise ins Wunderland.
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